Die Likedeeler
Klaus Störtebeker und Godeke Michels
Mit der relativen Befriedung der Ostsee verloren die Seeräuber
ihre letzten festen Stützpunkte und mussten sich nach einem neuen
Einsatzgebiet umsehen. Der Großteil fand es in der Nordsee, wo sich
die Burgunder in Flandern, die Wittelsbacher in Holland, die Grafen von
Oldenburg, England, Frankreich und die Hanse um Gebiete und Handelsvorteile
stritten. Dazwischen, niemandem untertan und in uralten Blutfehden zerstritten,
taktierten die friesischen Häuptlinge. Die meisten dieser Parteien
hatten Verwendung für die erprobten Meeressöldner, die als Lohn
nur einem Kaperbrief erwarteten.
Dass der Nachruhm der Vitalier hauptsächlich auf ihren Raubzügen
in der Nordsee beruht, scheint auf den ersten Blick wenig verständlich.
Vom Kampf um Schweden und der Eroberung Gotlands zu den Fehden um Friesland
vollzog sich ein deutlicher Abstieg zur Kleinkriminalität. Da die
Vitalier aber selbst nichts Schriftliches hinterlassen haben, stützt
sich die ganze Überlieferung, auch die Sagen und Legenden, auf die
Aufzeichnungen der hansischen Chronisten. Und denen schien es nach der
kläglichen Rolle der Hanse in der Ostsee sicher mehr angebracht, ihr
energisches Durchgreifen in der Nordsee herauszustreichen.
Die ersten Nachrichten über Klaus Störtebeker und Godeke Michels
stammen noch aus der Zeit ihres Wirkens in der Ostsee. Nach Gerichtsakten
war 1380 ein Nikolaus Störtebeker in Wismar an einer schweren Schlägerei
beteiligt, und 1394 wurden dann beide in einer englischen Klageschrift
der Piraterie vor Elbing beschuldigt. Da sie vorher unter den Hauptleuten
der Vitalier nicht erwähnt wurden, scheinen sie das Kapergeschäft
erst gegen Ende des Krieges aufgenommen zu haben. Auch ein Zusammenhang
mit den Mecklenburgern ist nicht zu belegen. Wahrscheinlich haben sie als
freie Kaper von Wismar aus Handelsschiffen aufgelauert und dabei englische
Schiffe bevorzugt, wie weitere Beschwerden belegen. Die Engländer
waren den Kapern in der Ostsee relativ schutzlos ausgeliefert, denn bis
der politische Druck bei der Hanse wirkte, konnten Jahre vergehen. In Wismar
hatte man lange sehr gute Geschäfte mit dem An- und Weiterverkauf
der geraubten Waren gemacht. Die Piraten hatten das schnell erworbene Geld
in den Kaschemmen am Hafen vertrunken, verspielt und verhurt. Man kaufte
ihnen billig die Beute ab, rüstete sie frisch aus, zog ihnen das restliche
Kleingeld aus der Tasche und ließ sie wieder auf Raub ziehen. Mit
dem Frieden zwischen Dänemark und Mecklenburg hatten sich die Zeiten
aber geändert. Außerdem wuchs der politische Druck des Ordens.
In Wismar trennte man sich also schweren Herzens von den Kapern und als
diese sich nach neuen Gefilden umsehen mussten, verschlug es die meisten
in die Nordsee.
Piraten brauchen sichere Häfen, von denen aus sie ihrem Gewerbe
nachgehen können. Als besonders geeignet erweisen sich dabei Gebiete,
die keiner Zentralgewalt unterstehen und deshalb keine Rücksichten
auf die "Außenpolitik" nehmen müssen (das aktuelle Somalia ist
hier ein gutes Beispiel). Die aus der Ostsee vertriebenen Kaper fanden
ein geradezu ideales Umfeld in Ostfriesland. Dort waren die verschiedenen
Häuptlinge in endlose Blutfehden verstrickt. Als Seefahrervolk betrieben
die Friesen seit Menschengedenken See- und Strandraub. Bei ihnen waren
die Vitalier als kostenlose, schlagkräftige Hilfstruppe sofort willkommen.
Unter den kräftigen Söhnen der Bauern und Fischer fanden sie
schnell neue Mannschaften und die befestigten Sitze und Häfen der
Häuptlinge boten Schutz und Absatzmärkte für die Beute.
Die Piraten nannten sich jetzt Likedeeler, da sie ihre Beute zu gleichen
Teilen teilten. Von Ostfriesland aus kaperten sie Schiffe in der Nordsee
bis in die Straße von Calais.
Einer ihrer ersten Heger, wie man ihre Schutzherren nannte, war Ede
Wimmeken der mächtigste Häuptling in Ostfriesland. Ede führte
seine Fehden mit Unterstützung seines Schwiegersohns Lubbe Sibbets
und mit dem den Friesen in diesen Dingen eigenen Enthusiasmus. So beteiligte
er sich einmal an einer Strafexpedition der Oldenburger und Bremer gegen
seinen verhassten Schwager Husseke Hayen und ließ anschließend
den Gefangenen mit Hanfstricken durchsägen. Als er die Vitalier in
Dienst nahm lag er bereits seit längerem in Fehde mit dem Häuptling
Widzel ten Broke. Von Edes Edenburg aus kaperten seine Hilfstruppen bald
ohne Unterschied alle vorbeifahrenden Schiffe. Ede übernahm den profitablen
Verkauf der Beute - oft wieder an die Beraubten - und die Übergabe
der Gefangenen gegen entsprechendes Lösegeld. Das florierende Gewerbe
rief allerdings bald die Hanse auf den Plan; die Edenburg war eben nicht
Gotland. 1398 zwang eine Strafexpedition Ede dem Seeraub abzuschwören
und seine Piraten wegzuschicken. Die ließen sich weiter westlich
bei seinem Hauptkonkurrenten Widzel ten Broke nieder und beteiligten sich
nun an dessen Fehden. Auch der Graf von Oldenburg nahm einige in Dienst,
um seine Einkünfte aufzubessern.
Widzel hatte nach einigen Kämpfen den Grafen von Holland - Albrecht
von Bayern - als seinen Lehnsherren anerkennen müssen. Albrecht nahm
danach ebenfalls einige Likedeeler, die zum Teil vorher für Widzel
gegen ihn gekämpft hatten, in Dienst und öffnete ihnen seine
Häfen. Der Weiterverkauf der geraubten Waren war für fast alle
Nordseeanrainer ein einträgliches Geschäft. Nur die massiven
Drohungen der Hanse konnten die Häuptlinge zeitweise davon abhalten.
Als jedoch Widzel 1399 starb und sich sein Halbbruder Keno von Holland
lossagte, benötigte er sofort wieder dringend Likedeeler als Hilfstruppen.
Da sich Keno auf diese Weise verstärkt hatte, wollte auch Ede nicht
länger zurückstehen und nahm sie wieder in Dienst.
Nun hatte die Hanse die Kindereien der Häuptlinge, die ihre Fehden
oft nur als Vorwand benutzten um hansische Schiffe auszurauben, satt. Im
Mai 1400 rückte eine große Strafexpedition nach Friesland. In
der Ems stellte sie 200 Seeräuber, 80 davon wurden im Kampf getötet,
der Rest floh. Angesichts der hansischen Macht waren die Friesen gezwungen
einige der versteckten Likedeeler herauszugeben; unter ihnen befand sich
auch ein unehelicher Sohn des Grafen Konrad von Oldenburg. Nachdem die
Gefangenen in Emden hingerichtet worden waren, mussten die Häuptlinge
wieder einmal der Piraterie abschwören. Um weiteren Rückfällen
vorzubeugen, musste Keno seinen Turm in Marienfelde abbrechen und die Hanse
legte Besatzungen in einige Burgen.
Störtebeker, Michels und die anderen, die der Hanse entgangen waren,
mussten Friesland vorerst meiden. Störtebeker trat deshalb mit gut
100 Mann in die Dienste des Grafen von Holland. Michels versuchte sein
Glück in Norwegen und eine dritte Gruppe wechselte vom Grafen von
Oldenburg ebenfalls nach Holland. Eine Urkunde erlaubte ihnen gegen alle
zu kämpfen, mit denen der Graf in Fehde lag - unter anderem Hamburg.
Verglichen mit den Kämpfen um Gotland handelte es sich hier nur noch
um größere Räuberbanden. Wenn man aber bedenkt, dass eine
Kogge nur ungefähr 20 Mann Besatzung hatte, kommt doch eine kleine
Flotte zusammen, selbst wenn Kriegsschiffe stärker bemannt waren.
Außerdem waren die Likedeeler erfahrene Seeleute und Kämpfer.
Für den letzten Kampf der Likedeeler unter Störtebeker und
Michels gibt es nur wenige Fakten. Wahrscheinlich waren ihnen die sicheren
holländischen Häfen zu weit von den hansischen Hauptrouten abgelegen,
oder sie fühlten sich stark genug den Gegner direkt herauszufordern.
Jedenfalls setzten sie sich auf Helgoland fest und damit Hamburg direkt
vor die Nase. Im August 1400 kam es dann zu einer Seeschlacht vor Helgoland,
in der Störtebeker mit seinen überlebenden Gefährten gefangen
genommen wurde. Die Gefangenen wurden in Hamburg enthauptet und ihre Köpfe
zur Warnung auf Pfähle genagelt. Kurz darauf ereilte Michels und seinen
Adjudanten den Magister Wigbold mit ihren Leuten dasselbe Schicksal.
Mit dem Tod der später legendären Anführer war der Spuk
aber längst nicht beendet. Da der Hanse der ständige Unterhalt
von Garnisonen in Ostfriesland zu kostspielig war, waren bald wieder Seeräuber
für die verschiedenen Häuptlinge tätig. 1408 unternahm die
Hanse wieder eine Strafexpedition; dieses Mal im Bündnis mit Keno
tom Brok, dessen Feinde sich einer Gruppe von Piraten bedienten. Einige
Burgen wurden belagert und erobert und Kenos Konkurrenten mussten klein
beigeben. Verlockt von seiner gewachsenen Macht, nahm er jedoch bald selbst
mehrere hundert Piraten in seinen Dienst und verjagte mit ihnen einen seiner
Konkurrenten aus Emden. Dadurch ermuntert begannen die Oldenburger Grafen
einen lohnenden Kaperkrieg gegen Holland. Bei ähnlich verworrenen
Machtverhältnissen wie in Italien fanden die Kaper immer wieder sichere
Häfen und Umschlagplätze. Die Hanse konnte sich nur darauf beschränken,
die schlimmsten Auswüchse zu beschneiden.
Neuen Auftrieb bekam das Gewerbe, als es zwischen Dänemark unter
Margaretes Nachfolger Erich von Pommern und den Grafen von Holstein zum
Streit um Schleswig kam. Die Holsteiner stellten Kaperbriefe aus und die
Piraten, unter der Schirmherrschaft von Kenos Nachfolger Ocko ten Brok,
nutzten dessen Häfen Dokkum und Esumersiel für ihre Fahrten.
Sie scheinen sich nicht mit dänischen Schiffen begnügt zu haben,
denn 1420 drohte Lübeck mit Krieg. Da die Drohungen wie üblich
nichts fruchteten, schickte Lübeck eine Flotte und ein Heer nach Friesland.
1422 wurde Dokkum erobert und wieder viele Piraten getötet oder hingerichtet.
Die Holsteiner mussten ihre Hilfstruppen entlassen, die sich zum Teil nach
England absetzten, wo der neu aufgeflammte hundertjährige Krieg ausreichende
Beschäftigung bot.
Die Verluste der Piraten mussten im Lauf der Jahre gewaltig gewesen
sein. Den Strafexpeditionen und Henkern der Hanse waren weit über
Tausend zum Opfer gefallen; die friesischen Fehden und der Kaperkrieg kosteten
ebenfalls vielen das Leben; hinzu kamen die üblichen Verluste auf
See. Doch sobald der Druck der Hanse etwas nachließ und den Kapern
ein Hafen geöffnet wurde, waren sie sofort wieder zu hunderten zur
Stelle. In den Fischerdörfern und Hafenkneipen fand sich ständig
neuer Nachschub. Zum letzten großen Sammelpunkt an der Nordsee wurde
die ehemalige Edenburg von Ede Wimmeken. Sein Nachfolger Sibert Lubbenson
hatte sie ausgebaut und in Sibertsburg umbenannt. Sie lag günstig
an der westlichen Einfahrt zum Jadebusen und war mit Wassergraben, Mauer
und mächtigem Turm gut befestigt. Dort sammelte Sibert ein regelrechtes
Heer und wurde für seine Umgebung immer bedrohlicher. Seine Söldner
bezahlte er mit der Beute der gekaperten Schiffe. 1432 schlossen sich einige
friesische Häuptlinge, die Oldenburger und die Hanse zusammen und
wagten den Angriff. Bei den Kämpfen wurden zwar viele Piraten erschlagen
und gefangen genommen, die Eroberung der Sibertsburg gelang aber nicht.
Im Jahr darauf rückten die Hamburger mit einem Heer von 2.000 Mann
an. Sibert, der Verstärkungen heranführte, wurde geschlagen,
und die Seeräuber in einer wochenlangen Belagerung ausgehungert. Die
Burg wurde zerstört und die Gefangenen hingerichtet. Die Hamburger
besetzten Ostfriesland und sorgten für Ruhe.
Doch schon vorher hatte sich in der Ostsee wieder ein neuer Tätigkeitsbereich
aufgetan. Als die wendischen Hansestädte ebenfalls mit Erich von Pommern
in Konflikt geraten waren, benötigten sie die Unterstützung der
Kaper. Man fand eine größere Gruppe, die sich nach England abgesetzt
hatte. Das neue Bündnis sollte möglichst geheim gehalten werden
und so verliefen die Kontakte über die Hansekontore in Brügge
und London. Da die Engländer die ungeliebten Gäste gerne loswerden
wollten, wurde man sich schnell einig und die Hauptleute Bartholomeus Voet,
Klaus Klockner und Michel Rute traten mit 300 Mann in den Dienst der Hanse
gegen Erich von Pommern. Von Wismar aus gefährdeten die Kaper bald
den gesamten Ostseehandel. Voet plünderte sogar zwei Mal das norwegische
Bergen. Als es 1432 zum Waffenstillstand kam, waren die Kaper wieder arbeitslos.
Die wendischen Städte zahlten ihnen sogar Sold, um sie loszuwerden.
Eine gute Möglichkeit bot der Krieg des deutschen Ordens mit Polen.
Der Orden hatte immer wieder unter den Seeleuten Söldner angeworben.
Ehemalige Piraten waren dabei, auf Grund ihrer Kampferfahrung, besonders
beliebt. Im Orden nannte man sie wie alle Matrosen verharmlosend "Schiffskinder".
Sie kämpften als Fußvolk meistens mit langen Streitäxten
und Armbrüsten und wurden als Festungsbesatzungen und zur Kontrolle
von Flussübergängen eingesetzt. Zum Leidwesen des Ordens waren
die meisten der Schiffskinder jedoch nicht bereit den einträglichen
Kaperkrieg gegen Erich von Pommern aufzugeben. Die Werbungen verliefen
erst nach dem Frieden von 1432 erfolgreicher. In seiner Not gewährte
der Hochmeister sogar den Hauptleuten Voet und Klockner Pardon, obwohl
sie vorher Schiffe aus Reval gekapert hatten. Die ehemaligen Kaper kamen
dadurch in geregelte Dienstverhältnisse mit freier Verpflegung, Beuteanteil
und Sold von einer halben Mark pro Woche. Dabei gab es die üblichen
Probleme: Der Orden kam oft genug mit dem Sold in Rückstand, andererseits
schraubten die Schiffskinder in wichtigen Situationen ihre Forderungen
bis 1,5 Mark in die Höhe. Einige kaperten sogar Schiffe des Ordens,
um ihre ausstehenden Forderungen zu begleichen. Trotz allem beschäftigte
der Orden ständig hunderte von ihnen; Klockner stand sogar bis nach
1454 im Dienst des Ordens.
Die Vitalienbrüder waren einst als mecklenburgische und dänische
Söldner zu einer beeindruckenden Macht geworden. Ihren Höhepunkt
hatten sie als Freie Kompanie auf Gotland. Danach zerfielen sie in einzelne
Räuberbanden, die jedoch immer noch als Söldnertruppen gefragt
waren. Bei jedem Krieg und jeder Fehde kamen die Veteranen aus ihren Schlupfwinkeln
und sammelten neue Rekruten. Aber die Stabilisierung der politischen Verhältnisse
ließ die alte Selbständigkeit nicht mehr zu. Die ehemaligen
Vitalier und Likedeeler wurden immer mehr zu ganz normalen Söldnern,
die je nach Bedarf geworben und entlassen wurden. Natürlich war damit
die Geschichte der Kaper nicht abgeschlossen. Bei jedem Krieg traten Abenteurer
in den Dienst skandinavischer Könige und versuchten auf dem Meer ihr
Glück zu machen. Doch es blieben einzelne, die mit ihren Mannschaften
das alte Gewerbe weiter betrieben.