Die Rute des Moskowiter
Technologietransfer in der Frühen Neuzeit.
Im 14. Jahrhundert begannen die russischen Fürstentümer langsam
damit sich von der mongolischen Vorherrschaft zu lösen. Dies war ein
äußerst langsamer von vielen Rückschlägen unterbrochener
Prozess, bei dem die konkurrierenden russischen Städte und Fürstentümer
fast mehr miteinander als gegen die Mongolen kämpften. Nach und nach
errang Moskau dabei dominierende Position, nicht zuletzt aufgrund seiner
ausgezeichneten Beziehungen zu den Mongolen. Einer der bedeutendsten Herrscher
in der Geschichte des Fürstentums Moskau auf dem Weg zu Russland war
sicher Iwan III. (1462-1505) auch genannt der Große. Er vervierfachte
das Herrschaftsgebiet von Moskau, und verleibte ihm so wichtige Konkurrenten
wie Nowgorod, Rostov, Tver und Smolensk ein; er kündigte die Tributzahlungen
an die Goldene Horde und heiratete eine Nichte des letzten byzantinischen
Kaisers.
Wichtige Voraussetzungen für diese Erfolge waren natürlich
eine geschickte Bündnis- und Heiratspolitik, dazu Reformen in der
Verwaltung und im Steuerwesen. Von entscheidender Bedeutung wurden aber
die Reformen beim Militär, ohne die wie so die letzten Argumente gefehlt
hätten. Unter dem Einfluss der Mongolen hatten leichte Reiter auch
in den russischen Heeren eine dominierende Stellung erreicht. In den Kämpfen
der Russen untereinander spielten jedoch auch befestigte Städte eine
wichtige Rolle. Diese wurden allerdings fast nie im Sturm genommen, sondern
bestenfalls durch lange Belagerungen zur Kapitulation gezwungen
Iwan III. erkannte anscheinend sehr schnell die Bedeutung westlicher
Militärtechnologie beim Festungsbau und der Artillerie. Der Befestigung
russischer Städte kam bei der Abwehr der Tartaren eine äußerst
wichtige Rolle zu, aber auch bei den Kämpfen um Livland und gegen
Polen wurden Städte und Festungen als strategische Angelpunkte zunehmend
wichtiger. Für den Bau moderner Festungen, die gegen Artillerie verteidigt
werden konnten, die eigene Produktion von Geschützen und deren Bedienung
war man in Moskau jedoch auf den Import westlicher Fachleute angewiesen.
Einer der ersten westlichen Fachleute war der italienische Architekt
Aristotile Fioravanti (ca.1415-1486) aus Bologna. Es ist heute noch berühmt,
da er mit der Uspenski-Kathedrale nicht nur die größte Kirche
innerhalb des Moskauer Kremls, sondern auch das älteste vollständig
erhaltene Gebäude in Moskau gebaut hat. Weniger bekannt ist dagegen,
dass Fioravanti wahrscheinlich in erster Linie für militärische
Aufgaben angeheuert worden war; schließlich war Iwan III. ein äußerst
praktischer Mensch. Fioravanti, der vorher schon für König Matthias
Corvinus (auch ein militärischer Reformer und Freund der Artillerie)
gearbeitet hatte, kam 1475 nach Russland. Dort entwarf er dann nicht nur
die berühmte Kathedrale sondern auch so banale Dinge wie Öfen
mit denen man härtere Ziegel brennen konnte. Er ließ dickere
Festungswälle bauen, die von Bastionen geschützt wurden.
Fioravanti war zwar weder Gießer noch Geschützmeister, aber
als Architekt wusste man nicht nur wie man starke Festungen baute, sondern
auch wo deren Schwachpunkte waren und wo man mit der Belagerungsartillerie
ansetzen musste. Man nimmt deshalb an, dass er als Kommandeur der Artillerie
an den Feldzügen gegen Nowgorod (1477/1478), Kasan (1482) und Twer
(1485) teilgenommen hat. Im Falle des mächtigen Nowgorod genügte
anscheinend schon das Erscheinen der russischen Belagerungsartillerie vor
den mittelalterlichen Wällen um die Stadt zur Kapitulation zu bewegen.
Es folgten andere Italiener: Architekten, Ingenieure, Gold- und Waffenschmiede,
Glocken- und Geschützgießer. Die Übergänge zwischen
zivilen und militärischen Techniken waren fließend. Mit den
Italienern kamen bald auch Ungarn, Polen, Skandinavier und natürlich
Deutsche, die zu dieser Zeit im Bergbau und in der Metallverarbeitung eine
führende Stellung hatten. Der Bedarf des Zaren war riesig. Er brauchte
natürlich in erster Linie Architekten und Gießer. Aber bald
wurde auch Pulver hergestellt. Für die ersten Messingkanonen musste
man das Metall noch importieren. Also benötigte man auch Bergleute.
Und nicht zuletzt mussten die neuen Kanonen auch bedient werden und so
folgten den Gießern und Pulvermachern die Kanoniere auf dem Fuß.
Zuerst waren es nur ein paar Dutzend Spezialisten, bald einige hundert
und schließlich weit über Tausend, die zum Großteil in
einem eigenen Stadtteil von Moskau lebten. Dieser bekam bezeichnenderweise
den Namen "Njemezkaja Sloboda" - die Deutsche Vorstadt. Dort wohnten die
ausländischen Händler, Facharbeiter und Söldner, neben den
Deutschen vorwiegend Schotten und Schweden. Das Volk nannte das Viertel
"Naleiki", von "Nali" (Schenke). Ein Reisender behauptete, das käme
daher, dass die Ausländer noch mehr als die Russen getrunken hätten.
Wahrscheinlich lag es aber mehr am Schankprivileg, an dem viele Ausländer
ausgezeichnet verdienten. Ein französischer Söldnerführer
berichtete vom Reichtum und Hochmut der Deutschen und ihren prachtvoll
herausgeputzten Frauen. "Ihr Haupt-Gewinn bestand darin, dass sie die Erlaubnis
hatten, Branntwein, Meth und andere Getränke zu verkaufen, worauf
sie nicht zehn, sondern Hundert vom Hundert gewannen".
Der Großfürst hielt sich gern unter den Ausländern auf.
Vor allem aber liebte er seine Geschütze. Oft besuchte er den Gießhof
in der Stadt, wo er sich die neuen Erzeugnisse vorführen ließ.
Bald verfügte der Großfürst einen beeindruckenden Geschützpark.
Besonders schätzte er große Kanonen, die zwar in einer Schlacht
nicht verwendet werden konnten, desto mehr aber bei Belagerungen.
Schwierig wurde die Lage als Iwan die grausamen Kriege um Livland begann,
weshalb ihm dann die meisten europäischen Länder die Anwerbung
von Fachkräften untersagten. Doch solche Waffenembargos waren auch
damals eher dazu da umgangen zu werden und die Preise in die Höhe
zu treiben. So suchte man unter den Kriegsgefangenen und Verschleppten
nach erfahrenen Leuten, und die Agenten des Großfürsten versprachen
jedem Überläufer reiche Geschenke. Unter diesen Umständen
fanden sich einige Söldner des Deutschen Ordens, die für das
Gold des Großfürsten anscheinend ähnliche Dienste verrichteten,
wie Meister Georg vor Rhodos. Ein Büchsenmeister gestand auf dem Sterbebett,
dass er für hohe Bezahlung im Durcheinander einer Schlacht in die
eigenen Reihen geschossen und anschließend sein Geschütz gesprengt
hatte.
Als die Moskauer Truppen 1502 vom Ordensmeister Wolter von Plettenberg
entscheidend am Smolinasee geschlagen wurden, leisteten die deutschen Landsknechte
(!) Ivans besonders harten Widerstand und brachten den vom Erzbischof geführten
Flügel in schwere Bedrängnis. Danach drangen sie tief in die
Linie des Ordens ein, bevor sie schließlich aufgerieben wurden.
Man weiß sehr wenig über diese Männer, die im fernen
Moskau ihr Glück suchten oder als Kriegsgefangene im russischen Heer
endeten. Dennoch ist ihre Rolle bei der Modernisierung kaum hoch genug
einzuschätzen. Ein paar Namen hat allerdings der kaiserliche Gesandte
am Russischen Hof Siegmund Freiherr von Herberstein überliefert. Als
sich unter Iwans Sohn und Nachfolger Wassili III. Iwanowitsch (1505-1533)
die Beziehungen zum Reich wieder verbesserten, stand die Anwerbung von
Geschützmeistern ganz oben auf der Wunschliste des Großfürsten.
Herberstein begleiteten deshalb zwei russische Diplomaten 1517 nach Innsbruck
und warben dort 5 deutsche Geschützmeister an. Von dort aus reisten
sie dann über Lübeck und Livland weiter nach Russland.
1526 kam Herberstein wieder nach Moskau und erkundigte sich fürsorglich
nach dem Schicksal seiner Landsleute, auch mit der Absicht diese wieder
mit nach Hause zu nehmen. Er musste erfahren, dass zwei inzwischen gestorben
waren. Von den anderen hatte sich ein gewisser Nikolaus von Speyer 1521
bei der Verteidigung Moskaus gegen die Krim-Tataren bewährt, und Jordan
aus Tirol hatte sehr erfolgreich gegen die Tataren bei Rjazan gekämpft
und war bereits mit einer Russin verheiratet. Der Großfürst
war deshalb kaum bereit auf die Dienste dieser bewährten Kämpfer
zu verzichten. Lediglich den fünften, den bereits erblindeten Meister
Walch wollte er ziehen lassen, und so war dies der einzige, der mit Herberstein
zurückreiste.
Russland litt furchtbar unter den Einfällen der Tataren. Da Moskau
ihre Oberhoheit nicht mehr anerkannte, fielen sie bei den geringsten Anzeichen
von Schwäche in das Land ein, verwüsteten Städte und Dörfer
und führten Zehntausende in die Sklaverei. Die Krimtataren waren zu
mächtig und zu weit entfernt für einen Gegenschlag. Verglichen
damit lag das Chanat von Kasan in greifbarer Nähe. Sobald Iwan IV.,
der den Titel eines Zaren angenommen hatte und als "Iwan der Schreckliche"
bekannt wurde, seine Macht konsolidiert hatte, begann er mit dem Gegenangriff.
Dabei setzte er fest auf die neuen Geschütze und die Ingenieurskünste
seiner ausländischen Söldner. Da aber auch zwischen Moskau und
Kasan hunderte von Kilometern Wald und Sumpf lagen musste der Feldzug im
Winter unternommen werden, wenn das Eis der Wolga den Transport der schweren
Geschütze und Belagerungsgeräte erlaubte.
Im Westen führte man Kriege im Sommer. Und die fremden Büchsenmeister
und Ingenieure hatten sich vielleicht gerade daran gewöhnt, die endlosen
Winter vor ihren Kachelöfen mit viel Schnaps zu überstehen. Jetzt
mussten sie für ihre Geschütze riesige Schlitten konstruieren,
Flaschenzüge und Kräne bauen. Doch es kam noch schlimmer. Es
taute und das Eis wurde brüchig. Geschütze und Munition brachen
ein und versanken mit hunderten von Menschen in den eisigen Fluten. In
Matsch und Schnee in den Wäldern an den Ufern der Wolga wartete das
Heer vergeblich auf einen neuen Dauerfrost bis das Unternehmen schließlich
aufgegeben werden musste.
Im Jahr darauf war es so kalt, dass die Menschen auf den Straßen
Moskaus erfroren - also ideal für einen Feldzug. Dieses Mal hielt
das Eis und das Heer kam nach einem Marsch durch die furchtbare Kälte
im Februar 1549 vor Kasan an. Nach ersten für beide Seiten verlustreichen
Kämpfen, setzte wieder Tauwetter ein. Heftige Regenfälle füllten
die Gräben mit Schlamm. Das Hochwasser der Wolga überschwemmte
das Lager und unterband den Nachschub. Wieder musste sich das Heer zurückziehen.
Man wird versucht haben einige der kostbaren Geschütze zu retten.
Dass dies bei dem Rückzug durch versumpfte Steppen und Wälder
gelang, ist zu bezweifeln. Die Büchsenmeister werden die Tataren,
die Russen und vor allem sich selbst verflucht haben, für ihren Leichtsinn
in dieses schreckliche Land gekommen zu sein.
Doch Iwan war nicht bereit aufzugeben. Im Gießhof ließ er
Ersatz für die verlorenen Geschütze schaffen. Drei Jahre später
unternahm er mit einem Geschützpark von 150 Kanonen einen neuen Versuch.
Aufgrund der letzten Erfahrungen erfolgte der Angriff im Sommer. Menschen,
Proviant, Munition und Kanonen wurden auf Schiffen nach Kasan gebracht.
Doch Kasan war eine mächtige Stadt mit starken Wällen aus Holz
und Erde und einer Besatzung von mehreren zehntausend Tataren. Nach ersten
erfolglosen Kämpfen ließ der Zar seine fremden Helfer kommen.
Ein russischer Chronist schreibt, dass die Franken schnelle Abhilfe versprachen:
"Bekümmere dich nicht Herre Zar, wir werden schnell in wenigen Tagen,
wenn du es uns erlaubst, die Stadt bis auf die Grundfesten zerstören,
dies ist unser Handwerk, und deswegen sind wir gehorsam, Gott und dir zu
dienen. Er aber hörte dies von den Franken und wurde von Freude erfüllt
und beschenkte sie überreichlich mit Gold und Silber und glänzenden
Kleidern und befahl ihnen, solches in Schnelle zu tun. Die Listenreichen
gingen mit Eifer an die Sache."
Sie bauten Gräben, Brücken und Kanäle, aber vor allem
vier hohe Belagerungstürme, von denen die Russen die Wälle und
die Stadt beschießen konnten. Dann gruben sie heimlich mehrere Minenstollen
unter die Wälle. Als das russische Heer vor der Stadt aufmarschiert
war und die Tataren zu tausenden auf den Wällen standen, wurden die
Minen gezündet. "In dem Augenblick erdröhnte plötzlich die
Erde wie ein gewaltiger Donner, jener Ort bebte völlig, wo die Stadt
stand, die Mauern der Stadt wankten und um ein Kleines wäre die ganze
Stadt von ihren Grundfesten gestürzt. Und es kam Feuer aus den Höhlen
der Stadt hervor, wand sich an einem Ort zusammen, und die Flamme des Feuers
und starker Staub erhoben sich bis zu den Wolken, prasselnd und tosend
wie mehrere starke Wasserfälle, so dass einige russische Krieger von
Schrecken umfangen wurden und weit von der Stadt flohen. Und es zerriß
die starken Mauern der Stadt [...] Die auf den Mauern stehenden Heiden
aber, die Schmähungen und Schimpfworte gegen die russischen Krieger
schleuderten, die sind alle ohne Spur vergangen. Die einen erstickten in
dem Gebälk und Rauch, andere fraß das Feuer."
Der russische Chronist übertreibt sicher, aber gerade dadurch wird
deutlich welchen Eindruck die Künste und die Macht der fremden Techniker
machten. Wie die Byzantiner nannten die Russen die Abendländer "Franken"
und einige Historiker haben sich darum gestritten, ob der leitende Mineur,
den es gegeben haben soll, Deutscher oder Däne gewesen ist. Aber an
dem Erfolg waren viele beteiligt: Gießer, Mineure, Feuerwerker und
Kanoniere, gute Ingenieure und Scharlatane. Die deutschen Büchsenmeister
und Bergleute hatten im 16. Jahrhundert vor allem in Russland den besten
Ruf. Dass sie ihre Künste relativ skrupellos an den Meistbietenden
verkauften, ist nicht unbedingt ein Grund für patriotische Gefühle.
Als der Zar nach der Eroberung von Kasan einen neuen Eroberungskrieg
gegen Livland begann, übten sich die Deutschen in Reue und behinderten
den Zuzug von Fachkräften nach Möglichkeit. Gezielt fahndete
man in Russland deshalb unter Gefangenen nach handwerklich geschickten
Deutschen. Der Zar verbot seinem Adel ausdrücklich deutsche Gefangene
ins Ausland zu verkaufen. Er betrachtete sie als sein persönliches
Eigentum und ließ bekannt machen: "Und diejenigen, die deutsche Kriegsgefangene
an Deutsche verkauft haben, soll man ins Gefängnis bringen und zu
unserer Verfügung halten. Sollte ein Bojare oder sonst jemand einen
kriegsgefangenen Deutschen besitzen, der Silbererz, Silber, Gold, Kupfer,
Zinn und anderes zu verarbeiten weiß, so sollt ihr solche Kriegsgefangene
zu uns nach Moskau schicken lassen."
Man kann sich gut vorstellen, dass der Sultan während seiner Kriege
in Ungarn ähnliche Vorschriften erlassen hat. So unterschiedlich wie
das Leben für die fremden Söldner in Russland und der Türkei
auch war, so ergaben sich doch einige wesentliche Gemeinsamkeiten. Beide
Reiche verwendeten Kriegsgefangene und belohnten Überläufer mit
fürstlichen Geschenken. Durch ihre technologische Rückständigkeit
waren sie außerdem oft das Ziel für Abenteurer dubioser Herkunft.
Wer als Büchsenmeister in Mitteleuropa Schwierigkeiten hatte, eine
Stelle zu finden konnte sicher sein, dass ihn Zar oder Sultan mit Freuden
aufnehmen würden. Aber es war in beiden Fällen ein äußerst
riskantes Unternehmen. Zu diesen Abenteurern und zwangsrekrutierten Gefangenen
kamen wie zu allen Zeiten, wenn gutes Geld für moderne Waffen und
Spezialisten bezahlt wird, skrupellose Geschäftemacher, die immer
alles an jeden verkaufen. Iwan bezahlte gut für solche Dienste. Im
Reich agierte für dicke Provisionen als Werber ein gewisser Johann
Schlitte aus Goslar. Er warb Gießer, Steinmetze, Ärzte, Landsknechte
und Kanoniere. Die Hanse, die um ihre Kontore in Livland fürchtete,
ließ ihn verhaften und beschuldigte ihn, dem Zaren statt Doktoren
800 Landsknechte zugeführt zu haben, musste ihn aber wieder frei lassen.
Als einige Jahre später auch der deutsche Ritterorden in Livland
besiegt worden war, wurden der Ordensmeister Fürstenberg und der Khan
von Kasan gemeinsam im Triumphzug durch Moskau geschleppt. Der Khan soll
dabei seinem Leidensgenossen zugerufen haben: "Euch deutschen Hunden geschieht
es eben recht, denn ihr habt dem Moskowiter zuerst die Rute in die Hand
gegeben, mit der er uns geschlagen hat, nun schlägt er euch selbst
damit."