Handel, Kaperkrieg und Piraterie
Die Abenteurer eines schwäbischen Bäckers.
Nachdem Spanien im Dreißigjährigen Krieg seine Vormachtstellung
verloren hatte, kam der Kaperkrieg erst richtig in Schwung, denn nun stritten
die Niederlande, England und Frankreich in wechselnden Koalitionen um die
Nachfolge. Den Seeleuten waren die Händel der Großen oft gleichgültig.
Die Koalitionen wechselten so oft, dass es schon schwierig genug war, den
groben Überblick zu behalten. Nach Recht oder Unrecht zu fragen erübrigte
sich. Manchmal vergingen Monate bis ein Schiff über den Stand der
Lage informiert wurde. Vielleicht hatte man da gerade ein Schiff gekapert,
das inzwischen zu den Verbündeten gehörte, oder ein Seemann hatte
in einem Hafen abgemustert, der nun zu den Gegnern gehörte. Niemand
durchsuchte die Hafenkneipen nach "feindlichen" Seeleuten; man heuerte
sie an. Nach verlustreichen Kämpfen war es wie an Land üblich,
die eigenen Lücken mit Gefangenen zu füllen.
Ausführlich vom Leben an Bord dieser Schiffe, die sich je nach
Bedarf mehr dem Handel, dem Seeraub oder dem offenen Krieg widmeten, berichtet
der Schwabe Martin Wintergerst aus Memmingen. Als einfacher Seemann fuhr
er unter vielen Flaggen, auf Kriegsschiffen, Gelegenheitskapern und Ostindienfahrern.
Als unverwüstliche Abenteurernatur erzählt er mit einem gewissen
Humor und auch Selbstironie von seinen weiten Reisen. Dabei versucht er
keine Bildung durch langatmige Beschreibungen von fremden Tieren und Gebräuchen
vorzutäuschen; er schreibt naiv und offen über die Nöte
und kleinen Freuden der Krieger auf See.
Wie viele seiner abenteuerlustigen Zeitgenossen war auch er ein Träumer
und hatte schon in "jungen Jahren die Begierde, weit entlegene Länder
zu besuchen" verspürt. Oft war er deshalb von seinen Mitschülern
gehänselt worden. Aber er kam aus einfachen Verhältnissen und
musste erst einmal in Augsburg eine Bäckerlehre hinter sich bringen.
Als wandernder Bäckergeselle machte er sich dann aber 1688 auf den
Weg. Zuerst ging es nach Norden. In Fulda fiel er Werbern in die Hände,
widersetzte sich aber standhaft ihren Überredungskünsten und
kehrte erst einmal zurück nach Augsburg. Im nächsten Jahr versuchte
er sein Glück im Süden. Über Innsbruck, den Brenner und
Trient marschierte er bis Venedig. Dort gab es viele wandernde deutsche
Handwerksburschen, die als Gastarbeiter geschätzt wurden. Wintergerst
kam in der deutschen Bäckerherberge unter und fand schnell Arbeit
in einer Großbäckerei. Doch die war hart. Mit fünf anderen
kräftigen Gesellen mußte er den ganzen Tag den Teig mit den
Füßen kneten. Dazu herrschte durch das Wetter und die Backöfen
eine geradezu unerträgliche Hitze. Bald sah er sich nach einer leichteren
Arbeit um und fand sie bei einem deutschen Wirt aus Nürnberg. Er verdiente
zwar nicht viel, nutzte aber die Zeit, um Italienisch zu lernen.
Die neu erlernten Sprachkenntnisse waren ihm bald von Nutzen. In der
Herberge traf er einen holländischen Kapitän, der ihn als Dolmetscher
anheuerte. Damit begann für den schwäbischen Bäcker die
große Fahrt. Er erhielt eine Seekiste, Bettzeug und betrat mit staunenden
Augen einen ansehnlichen Freibeuter mit 46 Kanonen und 180 Mann Besatzung.
Sie kreuzten im Mittelmeer und lauerten vor allem auf französische
Schiffe. Dazu tarnten sie ihr Schiff mit verschiedenen Namen und Flaggen.
Vor der dalmatinischen Küste näherten sie sich einem französischen
Kauffahrer unter der Fahne von Livorno. Nachts als die Schiffe dicht beieinander
ankerten wurde der nichtsahnende Franzose geentert. Nach einem kurzen heftigen
Kampf gab sich die Besatzung geschlagen und Wintergerst erhielt als erste
Beute die Kiste des Bootsmanns. Es folgten weitere Kämpfe mit Franzosen
und nordafrikanischen Korsaren. Wenn etwas erbeutet wurde, wurde es gleich
wieder in italienischen Häfen verkauft, und Wintergerst wurde langsam
ein Seemann.
Nach einer Reihe wechselvoller Kaperfahrten entschloss sich der Kapitän
zur Rückreise und damit auch wieder zum Handel. In Spanien wurden
Wein, Salz und Silber geladen. Doch bevor das Schiff Holland erreichte,
wurde es im Kanal von drei französischen Kaperschiffen angegriffen.
Erst jetzt erlebte Wintergerst ein richtiges Seegefecht von seiner blutigsten
Seite. Wenn kein schneller Überfall gelang, beschossen sich die Schiffe
so lange bis einer aufgab. Die schweren Stückkugeln wirkten verheerend;
sie durchschlugen die Bordwände, rissen Geschütze aus den Lafetten
und zerschmetterten alles auf ihrem Weg. Auf den Geschützdecks herrschte
ein unbeschreibliches Chaos: in dichtem Pulverqualm drängten sich
die Mannschaften um die Kanonen, deren donnerndes Krachen sich mit Bersten
der Bordplanken, den Schreien der Verwundeten und den gebrüllten Kommandos
vermischte; herumfliegende Holz- und Eisenstücke zerquetschten und
zerrissen Menschen; die Schiffsjungen rannten nach Pulver und rutschen
auf dem blutigen Deck aus, Verwundete wurden zum Tisch des Feldschers geschleppt,
der wie am Fließband amputierte. Alles schwamm regelrecht im Blut,
überall lagen Verstümmelte, abgerissene Gliedmaßen, Hautfetzen,
Därme und Hirn hingen zwischen den Trümmern. Einem Constabel
wurde der Kopf von einer Kanonenkugel wie mit einer Säge abgetrennt
wurde.
Es war ein furchtbares Blutbad. Doch die Mannschaft hatte gut auf ihrer
Kaperfahrt verdient und wehrte sich verbissen. Nachts wurde das Gefecht
abgebrochen, aber am nächsten Tag waren die Kaper wieder da und wollten
von ihrer sicheren Beute nicht ablassen. Der Kapitän, der um seine
wertvolle Ladung fürchtete, ermunterte seine Männer mit dem spanischen
Wein zum Durchhalten. Schließlich versprach er jedem einen Anteil
am Silber. Nach drei Tagen als nur noch einige Leichtverwundete auf den
Beinen waren, wurde endlich kapituliert. In der Hoffnung, sie zu behalten,
legten die Seeleute ihre besten Kleider an, und Wintergerst versteckte
sein Geld in den Stiefeln. Doch da der persönliche Besitz die Beute
der Sieger war, entging diesen nichts, auch nicht das Silber in Wintergersts
Stiefeln. Ansonsten war man trotz der schweren beiderseitigen Verluste
nicht nachtragend. Die Gefangenen wurden gut behandelt und so schnell wie
möglich nach St. Malo ins Lazarett gebracht. "Da ging es an ein Bein
abschneiden, und Arm absägen, daß es zu erbarmen", schreibt
Wintergerst, der selbst glücklicherweise nur leicht verwundet war.
Nach und nach wurden die Gefangenen ausgelöst. Nur Wintergerst
musste zurückbleiben, da er kein Holländer war. Also heuerte
er auf einem französischen Schiff an. Als dies kurz darauf von einem
unter französischer Flagge fahrenden Holländer überrumpelt
wurde, trat er wieder in holländischen Dienst und nahm an einigen
einträglichen Kaperfahrten teil, bei denen er wieder zu "Hausrath
und Geld" kam. Dann wechselte er auf einen dänischen Kaper, der vor
Portugal kreuzte und von dort auf ein genuesisches Schiff. Im Mittelmeer
trafen sie auf einige Holländer, die ihnen großzügig Geleitschutz
anboten, dabei aber nur auf eine günstige Gelegenheit für einen
Überfall warteten. Wintergerst ärgerte sich zwar zuerst über
die Hinterlist der Holländer, wechselte dann aber im ersten Hafen
auf eines ihrer Schiffe. Da der Genuese zu schwer bewaffnet und zu vorsichtig
für einen Überfall war, lauerten sie vor Sizilien auf Beute.
Hier schnappten sie nur einige mit Getreide beladene Barken, das sie in
den nächsten Häfen gleich wieder in Wein umsetzten: "und wie
es pflegt von den Schiff-Leuthen geschehen, leicht gewonnen leicht zeronnen,
so ging es auch bey uns, denn was wir vor unser weggeraubtes Korn von Geld
einnahmen, das verschleuderten wir wieder in dem so köstlichen, aber
auch schädlichen Syrakuser Wein, und damit war Korn Geld und Wein
miteinander hin".
Nachdem der Holländer noch einige Zeit unter türkischer Flagge
vergeblich auf französische Schiffe gewartet hatte, entließ
der Kapitän einen Teil seiner Besatzung in Italien. Mit dem Sold für
fünf Monate und 30 Fl Beuteanteil in den Taschen wanderte Wintergerst
nach Venedig und fand dort als inzwischen erfahrener Seemann leicht ein
neues Schiff. Dieses Mal transportierten sie Mönche nach Algier, die
dort gefangene Christen freikaufen wollten. In Algier konnten sie sich
in Begleitung von türkischen Soldaten die Stadt ansehen. Essen und
Wein waren billig und überall waren christliche Sklaven am Werk. Auch
das gehörte zur Seefahrt. Für zahllose Matrosen waren die Bagnos
von Algier das Ende ihrer Reisen. 5.000 von ihnen hatten die Algerier allein
bei ihrem Krieg gegen Marokko eingesetzt, wurde erzählt. Besonders
Zimmerleute und Kanoniere waren so gefragt, dass sie kaum eine Chance hatten
jemals freigelassen zu werden. In der Kirche auf der kleinen Insel Lampedusa
vor der tunesischen Küste hatte Wintergerst auf seiner letzten Fahrt
Vorräte gesehen, die dort für Gefangenen lagerten, denen die
Flucht in Booten aus Rinderhäuten gelang. Damals hatten er und seine
Kameraden die Kirchenkasse noch völlig bedenkenlos geplündert,
aber jetzt wurden sie doch etwas nachdenklicher.
Dazu hatten sie auch allen Grund. Denn der Kapitän hatte anscheinend
mit den algerischen Korsaren einen eigenen Handel abgeschlossen und diesen
Schiff und Besatzung verkauft. Auf der Rückfahrt wurden sie verfolgt
und kurz vor der spanischen Küste eingeholt. Der Kapitän setzte
sich überraschend mit dem Beiboot ab, und als sich die Mannschaft
auf das Gefecht vorbereiten wollte, fand sie die Waffenkammer und das Pulvermagazin
fest verrammelt. Mit knapper Not erreichten sie schwimmend das Land und
entkamen somit zumindest der Sklaverei. Obwohl sie von der spanischen Küstenwache
mitleidig mit etwas Proviant versorgt wurden, standen sie doch völlig
mittellos da. Wintergerst schlug sich bettelnd bis nach Cadiz durch und
heuerte dort in seiner Not auf der spanischen Kriegsflotte an. Doch hier
wurde niemand entlassen, der Dienst währte praktisch lebenslänglich.
Dieser Umstand und die strenge Disziplin an Bord behagten dem unsteten
Seemann überhaupt nicht. Er suchte nach einer Gelegenheit schnellst
möglichst zu desertieren. Doch dazu brauchte er zuverlässige
Hilfe. Als die Flotte in Neapel überwinterte und Wintergerst erfuhr,
dass der Vizekönig eine deutsche Leibgarde hatte, machte er sich auf
die Suche nach einem "Landsmann". Tatsächlich fand er einen Augsburger,
der auch gleich bereit war, ihn in seinem Vorhaben zu unterstützen.
Der Augsburger Gardist versorgte ihn mit neuen Kleidern und einem Pass
als Briefboten, mit dem er die spanischen Wachen um Neapel passieren konnte.
Denn die Spanier ließen alle Straßen scharf kontrollieren,
damit sich ihre Besatzungen im Winter nicht in Luft auflösten. Trotz
seiner Verkleidung entkam er den Wachen aber nur, weil er sie in einem
Wirtshaus verköstigte und betrunken machte.
Über Rom kam er nach Livorno, heuerte dort auf einem venezianischen
Kauffahrer an und wechselte dann Anfang 1692 in Venedig zur Kriegsflotte.
Damit kam er gerade richtig für die Endphase der Eroberung der Morea.
Die Flotte sollte den türkischen Nachschub blockieren und das Landheer
bei seinen Operationen unterstützen. Sie transportierten Truppen zwischen
Venedig, Dalmatien und der Morea, kreuzten vor den Dardanellen und machten
bei einzelnen Landungsunternehmen auch gute Beute an Teppichen und Seidenstoffen.
Mit deutschen Truppen eroberten sie die fruchtbare Insel Chios und blieben
dort über Winter. Wie so oft bei Einquartierungen im feindlichen Gebiet,
lebten die Söldner so lange in Saus und Braus, bis sie selbst bittere
Not leiden mussten. Wintergerst beschreibt die Ereignisse mit der für
ihn typischen Ironie: "So schön herrlich und lustig nun dieses Türckische
Paradieß aussahe als wir hinkamen, so sehr elend verdorben und verwüstet
wurde es in 5 Monat, dann wo nur etwas anzutreffen war, das muste entweder
geraubt, oder verderbt seyn, den Wein, was man nicht trincken konte, liesse
man lauffen, und so gienge es mit den andern Victualien auch, wir consumirten
alles dergestalt, daß wir hernach selber darben müsten". Moscheen
wurden in Pferdeställe umgewandelt, die Söldner prassten, als
ob jeder Tag der letzte wäre, und das erbeutete Gut und der Sold brannten
in ihren Taschen: "und wir Gemeine meynten, das müsse gewiß
die See-Schlacht seyn, fochten derowegen so lang mit dem Geld, biß
keins mehr im Säckel war, da es dann bey vielen so genau anfing zuzugehen,
daß sie ans Land setzten, und mit den Mäusen einen Krieg anfingen,
nur damit sie ihren hungerigen Magen besetzen konten."
Drei Jahre verbrachte Wintergerst bei der venezianischen Flotte, bis
er als Ober-Constabel seinen Abschied erhielt. In Venedig traf er seinen
alten holländischen Kapitän, der ihn jetzt für 20 Fl im
Monat einstellte. Nach einigen ruhigen Handelsfahrten wurde er in Amsterdam
wie die meisten Seeleute im Winter entlassen. Es gab zwar preiswerte Herbergen,
aber auch die nagten an den Ersparnissen, außerdem machte den unruhigen
Zeitgenossen die Langeweile zu schaffen. Die Nachricht, dass in Dünkirchen
Besatzungen für Kaperschiffe geworben wurden, traf deshalb auf offene
Ohren. Für die arbeitslosen Seeleute spielte es keine Rolle, dass
diese Kaperschiffe dann im Kanal hinter holländischen Schiffen her
sein würden; Hauptsache es gab Beute und Abwechslung. Sogleich machte
sich Wintergerst mit einigen Genossen auf den Weg. Sie wurden jedoch vor
der Grenze aufgegriffen und, da niemand ihren fadenscheinigen Ausreden
glaubte, nach Amsterdam zurückgeschickt. Im Frühjahr begann dann
endlich wieder die Werbung für die Flotte. Die Angeworbenen erhielten
Gutscheine, für die sie sich von Wirten bis zum Auslaufen verpflegen
lassen konnten. Wintergerst erhielt als Constabel einen relativ guten Sold,
musste sich aber selbst mit Pulverhörnern und Zündstöcken
ausrüsten und die restliche Zeit auf eigene Kosten bei einem Wirt
verbringen. Dieses Muster wiederholte sich mehrere Jahre. Kritisch wurde
es erst als die Flotte im Frieden ihre Werbungen reduzierte, und gleichzeitig
durch Eis und Schnee die Handelsschiffahrt ruhte. Wintergerst schreibt:
"damit lag aber unser Handwerck hinter dem Offen, und musten wir unserm
Beutel zimlich zusprechen". Aber als alter Hase hielt er sein Geld zusammen
und war so wenigstens nicht auf die Seelenverkäufer angewiesen, die
die Seeleute zwar durch den Winter brachten, dann aber für 150-200
Fl auf die übelsten Schiffe verkauften.
Da Stellen immer noch knapp waren, und er endlich etwas von der weiten
Welt sehen wollte, heuerte er 1699 auf einem Ostindienfahrer an. Erst jetzt
lernte er das Elend der Seefahrt richtig kennen. Sechs Wochen lag das Schiff
bei Windstille auf der Höhe des Äquators fest. Wasser und Verpflegung
wurden streng rationiert. Am schlimmsten war der Hunger für die holländischen
Kolonisten an Bord, die von ihrem eigenen Proviant leben mussten. Obwohl
ihnen die Matrosen aus Mitleid ihre Abfälle und was sie sonst erübrigen
konnten gaben, verhungerten viele. Aber auch die Mannschaft wurde ständig
schwächer, und der Skorbut breitete sich aus. Wintergerst zwang sich
trotz seiner geschwollenen Glieder in Bewegung zu bleiben. Andere wurden
völlig apathisch und verfaulten unter Deck bei lebendigem Leib. Vierzig
Tote hatte man schon über Bord geworfen, als das Schiff eine kleine
Insel mit frischem Wasser und Robben vor der südafrikanischen Küste
entdeckte. Selbst dem eher trockenen Wintergerst erschien die Insel wie
das Paradies. Er wünschte sich "einen guten Mahler zu haben, welcher
einen solchen schönen Thier-Garten recht entwerffen könte, es
solte gewiß ein solch schönes Gemäld werden, als mans jemalen
gesehen".
Nachdem sich die Mannschaft anschließend noch mehrere Wochen in
der Kapkolonie erholt hatte und verstärkt worden war, ging es über
Madagaskar und die Malediven nach Ceylon. Dort diente Wintergerst auf verschiedenen
Schiffen, die zwischen Ceylon, der Koromandelküste und Batavia Handel
trieben. Während dieser Zeit freundete er sich so eng mit einem schwedischen
Seemann an, dass sie sich zu ihren gegenseitigen Erben einsetzten. Das
waren sicher keine Reichtümer, aber in Ostindien konnten die Seeleute
in sehr begrenzten Ausmaß eigene Handelswaren mitnehmen und so ganz
gute Nebenverdienste erwirtschaften. Als der Schwede starb, erhielt sein
uneheliches Mischlingskind 100 Taler, der Rest fiel an Wintergerst. Da
das Geld aber bei der VOC hinterlegt war, musste er zurück nach Amsterdam.
Also nahm er nach vier Jahren Abschied von Ostindien. Die Rückreise
verlief glatt. Wegen des neu ausgebrochenen Krieges in Europa musste die
Flotte allerdings England im Norden umfahren und die Kälte bei den
Shetlandinseln machte den an die tropische Hitze gewohnten und leicht bekleideten
Heimkehrern zu schaffen. In Amsterdam erhielt er dann ohne Schwierigkeiten
das Erbe seines Freundes ausbezahlt. Zusätzlich hatte er noch seinen
eigenen Sold und den Erlös seiner asiatischen Mitbringsel.
Er besaß nun relativ viel Geld, und da die Franzosen kurz zuvor
nach der Schlacht bei Höchstädt aus Süddeutschland vertrieben
worden waren, machte er sich erstmals Gedanken über eine Rückkehr
nach Augsburg. Da zerschmetterte ihm beim Vertäuen eines Schiffes
ein steif gefrorenes Seil das Bein. Dank seines Geldes konnte er sich wenigstens
ein gutes Quartier leisten, das ihn für Unterkunft, Essen und "einen
Trunk Bier" wöchentlich 5 Fl kostete. Doch das Bein wurde nicht besser,
es vereiterte und färbte sich schwarz. Die folgende Behandlung erwies
sich als langwierig und kostspielig. Knochensplitter mussten entfernt und
das Bein zwei mal täglich frisch verbunden werden. Zusätzlich
mussten die Ärzte mit Essen und Trinken bei Laune gehalten werden.
Rückblickend sah er es mit dem ihm eigenen Humor: "Muste also leiden,
daß der Chyrurgus sowohl das Fleisch vom Bein, als auch das Geld
aus dem Beutel wegfretzte".
Während sein Geld dahinschmolz, besuchten ihn alte Kameraden und
beredeten ihn, wieder zur See zu fahren. Im September 1705, als sein Bein
wider Erwarten halbwegs verheilt war, fuhr er wieder nach Ostindien. Dieses
Mal hatte die Mannschaft nicht unter der Windstille, sondern einem korrupten
Kapitän zu leiden. Dieser hatte einen Teil des Laderaums anstatt für
die vorgeschriebene Verpflegung für seine privaten Handelswaren genutzt.
Die Mannschaft musste hungern und hielt sich nur mühsam mit Fischfang
am Leben. Nach Wintergersts Erfahrungen waren solche Vorfälle keine
Ausnahmen. Ein besonders tyrannischer Kapitän pflegte mit dem Brot
der Mannschaft seine Schweine zu füttern, und damit sich diese nichts
von dem Brot zurückholte, musste der Sauwart darauf urinieren. Wintergerst
schilderte zwar diese Missstände, war aber zu lange zur See gefahren,
um sie wirklich schlimm zu finden. Sie gehörten zum Alltag auf den
Schiffen, wie die Unterschlagungen bei der Versorgung der Landheere. Er
wusste zu überleben, und wenn ihm ein Kapitän zu sehr missfiel,
suchte er sich ein anderes Schiff.
Zum zweiten Mal in Ostindien kannte er jeden wichtigen Hafen zwischen
Bengalen und Amboina, jedes Tau und jeden Winkel auf den Schiffen und konnte
sich in einem halben Dutzend Sprachen verständigen. Anlässlich
einer weiteren Überquerung des Äquators vor Sumatra bemerkt er
deshalb nicht ohne Stolz: "Hier fienge es an mir fast zu gehen, wie vormals
in Italien, daß mir diese Refier so wohl oder wohl besser bekandt
war, als mein Vatterland, und da ich das erstemal, als ich die Linie muste
passieren, meynte, ich hatte was grosses gethan, jetzt es fast so viel
achtete, als ob ich eine Meil auf dem Boden-See spatzieren fuhre, dann
ich hatte auf dieser Schiffahrt solche wohl 13.mal durchschnitten".
Die Schiffe pendelten zwischen Ceylon, indischen Häfen, Batavia
und den indonesischen Inseln. Sie transportierten Eisenwaren, Kupfer, Zucker,
Baumwolle, Tuche und Gewürze. Die Seeleute trieben meist etwas Handel
mit Branntwein, manchmal kauften sie auf den indonesischen Inseln Papageien
und versuchten ihnen einzelne Sätze beizubringen und sie dann weiterzuverkaufen.
Wenn sie seltene Fische fingen, präparierten sie diese und verkauften
sie in den Hafenstädten. In vielen Häfen wurde auch Opium geraucht
und Wintergerst erzählt, dass es ihm einmal ein Bekannter zum Scherz
ins Essen gemischt hätte, worauf er in eine ziemlich schlimme "Raserey"
verfallen wäre. Eine große Attraktion waren indische Tänzerinnen.
Alle bewunderten ihre Kunst, ihre Anmut und den prächtigen Schmuck,
den sie bei ihren Aufführungen trugen. Wintergerst meinte ganz pragmatisch:
"aber wann ich hätte dörffen wehlen, so hätte ich das Gold,
welches sie anhangen hatten, nur von einer, vor sie alle genommen".
Trotz der blutigen Seegefechte, des rohen Umgangs an Bord und ihrer
Beutegier im Krieg neigten die Seeleute in der Regel nicht zu Grausamkeiten.
In Indien protestierten sie gegen die harte Bestrafung einer Diebin und
gegen eine Witwenverbrennung. Sie wussten was Not und Ausbeutung bedeutete,
denn sie erfuhren es täglich am eigenen Leibe. Die indischen Fürsten
sorgten zwar mit drakonischen Strafen für Sicherheit und Ordnung in
ihren Städten, aber Wintergerst bezeichnete einen von ihnen als den
"grösten Dieb, und scheinet daß er nur deswegen das stehlen
nicht leiden wolle, damit er allein solches zu treiben, die Ehre hätte".
Nach zwanzig Jahren zur See entschloß sich Wintergerst zur Heimreise.
1709 war er wieder in Amsterdam, erhielt seinen Sold und verkaufte seine
Mitbringsel. Da die Straßen für einzelne Reisende immer noch
unsicher waren, schloß er sich einer Gruppe Tiroler Vogelhändler
an, die ebenfalls auf dem Rückweg waren. Zu Fuß ging es am Rhein
entlang bis Heidelberg, dann über Stuttgart und Ulm nach Memmingen.
Wintergerst schreibt nichts über Freunde oder Verwandte, die ihn dort
empfangen hätten. Er scheint sich einsam gefühlt zu haben, und
nach seinem abenteuerlichen Leben hatte er wenig Lust, wieder als Bäcker
zu arbeiten. Denn er hatte "lieber mit Kuglen als mit Laiblen gespielt".
In der Heimat hielt ihn nicht viel, also machte er sich bald wieder
auf den Weg nach Venedig, dem Ausgangspunkt seiner Reisen. Doch das Reisen
in Italien war schwierig geworden. Aus Angst vor der Pest forderte jede
Stadt einen Gesundheitspass. Da er sich diesen nicht immer besorgen konnte,
wurde er in Bergamo für 32 Tage in Quarantäne gesteckt. Das heißt,
er kam in Einzelhaft und musste für seine Verpflegung bezahlen. Er
zeigte dem Wärter nur kleine Kupfermünzen und verriet nichts
von dem Silber, das er in seinen Kleidern eingenäht bei sich trug.
Andere mit weniger Erfahrung wären ihr ganzes Geld losgeworden oder
sogar verhungert. Doch auch danach gab es nur Enttäuschungen. In Venedig
waren alle seine alten Bekannten weg oder tot, und ohne Beziehungen war
keine Stelle zu finden. Deprimiert machte er sich wieder auf den Heimweg.
Wahrscheinlich fügte er sich in sein Schicksal und arbeitete wieder
als Bäcker. 1712 erschien jedenfalls in Memmingen sein Reisebericht
unter dem Titel: "Der durch Europam lauffende / durch Asiam fahrende /
an Americam und Africam anländede / und in Ost-Indien lange Zeit gebliebene
Schwabe". Vielleicht hat ihm der Erlös seine alten Tage etwas erleichtert.
Wahrscheinlich hat er auch in den Memminger Kneipen als Original für
das eine oder andere Freibier von seinen wilden Seeschlachten und weiten
Fahrten erzählt. Denn er hatte wirklich außergewöhnlich
viel erlebt, und ein guter Erzähler war er allemal.