Kriegsreisende

 die Sozialgeschichte der Söldner

Ein notorischer Deserteur

Mit und gegen Napoleon.

Trotz des patriotischen Rummels, der während der napoleonischen Kriege in ganz Europa entfacht wurde, bestanden viele Regimenter nach wie vor aus Gepressten, untergesteckten Kriegsgefangenen, Deserteuren und einigen Leichtsinnigen, die sich aus Abenteuerlust hatten anwerben lassen. Denn nach wie vor war der Militärdienst gerade für Leute aus ärmeren Bevölkerungsschichten eine der ganz wenigen Möglichkeiten etwas von der Welt zu sehen. Anders als in früheren Zeiten, wo ein Söldner befürchten musste, den größten Teil seines Lebens mit stupidem Drill in ein und derselben Garnison zu verbringen, war durch Napoleon wieder Bewegung ins Soldatenleben gekommen, was auf manche eine nicht zu unterschätzende Anziehungskraft ausübte. Allen neuen Ideen zum Trotz trieben diese unverbesserlichen Landsknechte zwischen den Fronten, jagten nach Beute, desertierten, landeten in neuen Regimenter und wurden letzten Endes wie immer betrogen. Im Gegensatz zu den Patrioten, denen es nur selten besser erging, blieb ihnen jedoch einiges an Verbitterung erspart. Einer dieser notorischen Deserteure, die hauptsächlich aus Langeweile die Fahne wechselten, war der Berliner Karl. Er hat nichts von Heldentaten und glorreichen Abenteuern zu berichten, dafür um so mehr von den verschlungenen Wegen des einfachen Söldners.

Handwerksburschen auf der Wanderschaft Karl wurde 1786 in Berlin geboren. Er war der Sohn eines Handwerkers, erhielt eine relativ gute Schulbildung, lernte im Hugenottenviertel ganz passabel Französisch und machte eine Buchdruckerlehre. Nach der preußischen Niederlage wurde er jedoch arbeitslos, und da die inzwischen verwitwete Mutter die Kinder allein nur schwer durchbringen konnte, begab er sich auf die Wanderschaft. Zuerst ging er nach Leipzig, aber dort packte ihn das Fernweh, denn er wollte plötzlich weiter nach Frankreich. Er erschlich sich einen Mainzer Pass und zog ins Rheinland und von dort nach Süddeutschland. Das Wandern war relativ einfach: auf dem Land bettelte er, und in den Städten erhielt er bei den Druckern immer eine Suppe und einen Zehrgroschen. Zum Militär zu gehen hatte er nur wenig Lust. Denn als er darauf aufmerksam gemacht wurde, dass ihn die Franzosen inzwischen als Mainzer rekrutieren würden, veränderte er in seinem Pass Mainz zu Massow in Pommern. Auch die Arbeit war ihm nicht mehr so wichtig. Er nahm nur noch Stellen an, wenn er völlig abgebrannt war. So kam er schließlich in die Schweiz.

Nachdem er in Luzern mal wieder sein letztes Geld ausgegeben hatte, traf er drei neue Rekruten, die als Nachschub des an Spanien vermietetes Schweizerregiments "Traxler" angeworben worden waren. Bislang hatte er um das Militär zwar immer einen Bogen gemacht, aber die Aussicht nach Spanien zu kommen reizte ihn gewaltig. Da er zudem hungrig und abgebrannt war, hatten die drei nur wenig Mühe ihn in eine Kneipe zum Rekrutierungsoffizier zu bringen. Dort gab es gleich Schnaps, Brot und Käse, und nachdem er sein Handgeld erhalten hatte kapitulierte er für sechs Jahre. Dass für die spanische Armee nur Katholiken geworben werden durften, war kein größeres Problem. Der Offizier sagte ihm, er solle lernen, das Kreuz zu machen und setzte ihn als katholischen Breslauer auf die Liste. Das so genannte Schweizerregiment bestand zum Großteil aus Deutschen, Ungarn und Polen, Deserteuren, Handwerksburschen und Vagabunden wie Karl.

Als genug Rekruten beisammen waren, ging der Marsch unter Führung eines Leutnants über Genf, das Rhonetal und Montpelier zur Grenze bei Perpignan. Der Sold war gut und die Verpflegung reichlich. Da Karl anders als die meisten lesen und schreiben konnte und zudem in der Berliner Hugenottenkolonie Französisch gelernt hatte, wurde er von dem Leutnant als Sekretär beschäftigt und hatte damit sogar noch einen Nebenverdienst. Unterwegs befreundete er sich mit einem Elsässer Tischler namens Berg, mit dem er gemeinsame Kasse machte, kochte und im Quartier das Bett teilte. Der Leutnant nützte die gute Stimmung unter den Rekruten geschickt aus und überredete alle noch um zwei Jahre zu verlängern. In Perpignan wurden die Söldner von den Grenzposten gemustert, da alle von westlich des Rheins stammenden Rekruten von der französische Armee beansprucht wurden. Der Leutnant befürchtete schon, einen Teil seiner kostbaren Ware zu verlieren, aber alle hielten sich an die Absprachen, und so wurde zum Beispiel aus dem Elsässer Berg ein Schwabe.

Schweizer in spanischem Dienst Der Grund für diese "Loyalität" lag jedoch einzig in dem Wunsch, nach Spanien zu kommen, dort angekommen schwand sie schnell. In Barcelona wurden die Rekruten im Depot des Regiments untergebracht. Als kurz darauf die Franzosen einmarschierten, begannen bald die ersten zu diesen überzulaufen, da dort größere Freiheiten herrschten. Auch Karl und Berg entschlossen sich während eines Spaziergangs in der Stadt, die Fronten zu wechseln. Da für sie als Ausländer allerdings nur die französischen Fremdenregimenter in Frage kamen, diskutierten sie ausführlich ihre Wahl. Zwar gab es auch in der französischen Armee Schweizerregimenter, aber dort herrschte strenge Disziplin und vor allem noch die Prügelstrafe. Also meldeten sie sich bei einem neapolitanischen Regiment, wo sich nach und nach das halbe Rekrutendepot ihres alten Regiments einstellte. Frankreich und Spanien befanden sich noch nicht im Kriegszustand, und die Einheiten beider Armeen lagen zum Teil in denselben Städten. Trotzdem gab es bereits genug Spannungen, so dass Deserteure nicht ausgeliefert wurden. Es war also für Unzufriedene von beiden Seiten äußerst einfach, die Fronten zu wechseln, und zumindest die echten Söldner aus den Fremdenregimentern zeigten hier keinerlei Bedenken. Auch Christian berichtet, dass die großen Plünderungen in Madrid einen Großteil der Söldner in den spanischen Schweizerregimentern zum Überlaufen bewegten.

Bei den Neapolitanern erhielten Karl und Berg zwar gleich neue Uniformen und gute Verpflegung aber leider keinen Sold, der bei den Franzosen oft nur sehr unregelmäßig ausbezahlt wurde. Damit waren die Freuden der Großstadt äußerst eingeschränkt. Vor allem plagte sie die Langeweile. Statt weiter Reisen und aufregender Abenteuer saßen sie ihre Zeit in der Garnison ab, und das ohne einen Heller in der Tasche. Da begegneten sie beim Flanieren in Stadt ihrem Wachtmeister aus dem Regiment Traxler. Dieser versprach ihnen volle Amnestie und sogar den Sold für die drei Wochen ihrer Abwesenheit, wenn sie zurückkommen würden. Die Aussicht, endlich etwas Geld in die Finger zu bekommen, gab den Ausschlag, und sie willigten ein. Das Überlaufen zu den Spaniern war inzwischen allerdings etwas schwieriger, da die Franzosen die Stadt weitgehend unter ihrer Kontrolle hatten. Der Wachtmeister schmuggelte deshalb die Rückkehrwilligen als Bauern verkleidet aus der Stadt, wo man sie wieder in schweizer Uniformen steckte und dann in kleinen Gruppen zum Regiment nach Tarragona schickte. Doch beim Marsch wurden sie von einer neapolitanischen Patrouille aufgegriffen und wieder nach Barcelona gebracht. Auf dem Rückweg wurden noch vier weitere Deserteure gefasst, was auf einen regen Verkehr zwischen den Fronten schließen lässt. Alle machten sich Sorgen, jetzt als Deserteure erschossen zu werden, aber die Neapolitaner wurden ihrem Ruf als laxe Truppe gerecht. Die Häftlinge mussten lediglich versprechen nicht wieder zu desertieren und wurden dann wieder in ihre Kompanien gesteckt.

Das langweilige Garnisonsleben fand sein Ende, als sich kurz darauf die Spanier gegen ihre Zwangsverbündeten erhoben. Zu seinem Leidwesen musste Karl aber in der Garnison bleiben, als die ersten Truppenteile gegen die Aufständischen ausrückten. Neidisch beobachtete er, wie sie nach einigen Tagen beutebeladen und ohne Verluste zurückkehrten. Zu seinem Glück war sein Freund Berg unter den Glücklichen, und sie lebten mit dessen Anteil einige Tage in Saus und Braus. Doch auch Karl sollte noch zum Zug kommen. Kurz darauf rückte das gesamte Regiment aus, und nach einem kleinen Scharmützel mit Bauern, wurde deren Dorf als Strafe zur Plünderung freigegeben. Karl, der dabei anfangs noch ein schlechtes Gewissen hatte, tröstete sich leicht mit den Worten: "Wo alles genommen wird, ist es dem, welcher beraubt wird, gleich wer es nimmt." Allerdings war in dem kleinen Dorf nicht viel zu holen und die Soldateska besoff sich aus Stiefeln und Mützen. Nachdem die Weinfässer zerschlagen und die Lebensmittel verschwendet waren, blieb praktisch nichts mehr übrig.

Kriegsgreuel in Spanien Auch Karl geriet jetzt in den spanischen Guerillakrieg, der von beiden Seiten mit bestialischer Grausamkeit geführt wurde. Dabei erlebte er Szenen, wie sie Goya in seinem Bilderzyklus "Die Schrecken des Krieges" festgehalten hat. Die Verrohung ging schnell, und Karl stellte verwundert fest, dass er, der in seiner Jugend kein Tier hatte töten können, jetzt ohne Gefühlsregung über erschlagene Greise stieg. Doch zuerst war der Krieg ein lohnendes Geschäft. Meistens erhielten die Söldner den ausdrücklichen "Befehl zum Plündern und Brennen", um die Bevölkerung gefügig zu machen. Bei der verlustreichen Einnahme einer Kleinstadt begann sofort das große Rauben. Karl und Berg drangen mit zwei Kameraden in das Haus eines Tabakhändlers und erbrachen alle Schränke und Kisten. Bei der Teilung der Beute erhielt jeder erhielt 800 Piaster, dazu schleppten sie Schinken, Speck und Wein aus der brennenden Stadt. Karl trug mit Berg ein kleines Fass. Ein Großteil der Beute wurde sofort verprasst, vergeudet oder beim Marsch weggeworfen. Blieb immer noch das Geld. 800 Piaster entsprachen 1.200 Talern und damit ungefähr dem zwanzigfachen Jahresverdienst eines deutschen Gesellen, nach heutiger Kaufkraft also mehreren 100.000 Mark. Eine Summe mit der man sich in der Heimat durchaus eine Existenz aufbauen konnte. Karl hätte zwar gerne einen Teil des Geldes nach Hause geschickt, da er aber wusste, dass es dort nie angekommen wäre, rann es ihm in Barcelona innerhalb weniger Wochen durch die Finger. Ein Teil wurde gestohlen, viel fraß die Teuerung und mit dem Rest wurden Kameraden bei Gelagen und in den Freudenhäusern freigehalten.

Wie immer rächten sich die Verwüstungen schnell. In Barcelona stiegen die Lebensmittelpreise in astronomische Höhen, und auf den Märschen litten die Truppen wegen der vielen niedergebrannten Dörfer große Not. Durstig dachte Karl an die zerschlagen Fässer und den versickerten Wein. Auch die Jagd auf wehrlose Bauern und die sich gegenseitig eskalierenden Vergeltungsaktionen machten ihm zunehmend Schwierigkeiten. Als er und seine Kameraden einmal die verstümmelten Leichen zweier vermisster Söldner in einem Kloster entdeckten, plünderten sie dieses vollständig aus, hängten alle Mönche und kreuzigten den Prior am Tor. Kurz darauf ging Berg bei einem Spähtrupp zu den Spaniern über. Karl blieb in Barcelona, das immer enger eingeschlossen wurde. Er freundete sich jetzt mit einem Schweizer an, mit dem er gemeinsam zu den Spaniern überlaufen wollte. Bei der Plünderung eines Dorfes schlugen sie sich dann getrennt in die Büsche. Als Karl die spanischen Vorposten erreichte rief er "Desertore" und wurde sogleich freundlich aufgenommen. In einer Schenke feierte man gemeinsam seinen Entschluss und überstellte ihn dann dem Schweizerregiment "Wimpfen", wo er auch seinen schweizer Kameraden wieder traf.

Soldaten in Spanien "Das Leben beim Spanischen Heere in Catalonien war jetzt ein sehr gutes: der Gemeine empfing täglich sein gutes Brodt und zwanzig Quartos, womit er, bei der noch herrschenden Wohlfeilheit, wie ein kleiner Herr leben konnte"; stellte Karl zufrieden fest und war sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Doch bald darauf erhielten die Franzosen Verstärkungen und schlugen die spanische Armee bei Valls. Mit den versprengten Resten, hart verfolgt von der französischen Kavallerie, schlug sich Karl nach Tarragona durch. Dort tat er sich mit dem Berliner Küchel und einem Württemberger zusammen, da "gute Kameraden das Soldatenleben erleichtern". Im Winter fiel ein Viertel der Garnison einer Seuche zum Opfer. Auch Karl wurde krank und vegetierte einige Zeit in einem völlig verkommenen Lazarett, bis er sich wieder etwas erholt hatte. Danach wurde es besser. Mit einer kleinen Einheit wurde er in der Stadt Cervera stationiert. Das Land war noch vom Krieg verschont geblieben, Wein und Lebensmittel billig und die Bevölkerung freundlich. Später dachte Karl an diese 15 Monate als seine beste Zeit im Ausland zurück. Zu ihm und Küchel gesellten sich noch ein Bayer und ein Schweizer. Da sie nur wenig Wachdienst hatten, unternahmen sie weite Spaziergänge durch die Felder und Weinberge, genossen die Trauben und Feigen und freundeten sich mit den Bauern an.

Doch das Idyll war nicht von Dauer. Ab 1810 kam es wieder zu Kämpfen mit den Franzosen am Rand der Pyrenäen und beim vergeblichen Entsatz des inzwischen belagerten Tarragona. Die Spanier vermieden die offene Schlacht, und beim Herumziehen im verwüsteten Hinterland von Tarragona wurden jetzt auch bei ihnen die Lebensmittel knapp. Den Söldnern gefiel diese Hinhaltetaktik überhaupt nicht. Es nagte an ihrem Selbstbewusstsein, sich ständig vor einem zahlenmäßig unterlegenen Gegner zurückzuziehen. Karl bemängelte, dass die Spanier nur in der Verteidigung und mit vielfacher Übermacht kämpfen würden. Auf diesen Märschen starb Küchel an der Ruhr, wodurch dann auch die Freundschaft zu den anderen beiden zerfiel, deren Bindeglied Küchel gewesen war. Wieder allein schloss sich Karl einem Elsässer an, der in einem französischen Regiment gedient hatte und als Gefangener gepresst worden war. Dieser überredete ihn dazu, erneut überzulaufen. Das war nicht schwierig, da Karl das sinnlose Lavieren der Spanier längst satt hatte. Außerdem hatte das neapolitanische Regiment Spanien verlassen, so dass er keine Entdeckung befürchten musste.

Wieder erwies sich die ganze Aktion als nicht besonders schwierig. Auf dem Marsch versteckten sie sich im Wald und ließen das Heer vorbeiziehen. Nachts schlichen sie dann durch ein Dorf zwischen den Fronten und ließen dabei noch einen mit Weinschläuchen beladenen Esel mitgehen, da die Spanier ja jetzt ihre Feinde waren. Als sie im Morgengrauen die französischen Wachfeuer vor Tarragona erreichten, meldeten sie sich mit dem Ruf "Deserteurs". Auch hier gab es gab einen freudigen Empfang, der mit einem gemeinsamen Umtrunk gefeiert wurde. Währenddessen fanden sich noch ein Unteroffizier mit seiner Frau und zwei Schweizer ein, die alle ebenfalls vom Regiment Wimpfen stammten. Karl lag also wieder einmal durchaus im Trend. Im französischen Heer traf er seinen alten Freund Berg wieder, der schon vor einem Jahr zu Franzosen zurückgekehrt war und sie nun nie mehr verlassen wollte. Berg übernahm den Verkauf des Esels samt der restlichen Ladung. Der Erlös wurde dann durch drei geteilt und man konnte nun anständig das Wiedersehen begießen. Die Überläufer wurden von französischen Offizieren zu Stärke und Moral der spanischen Truppen befragt und erhielten eine Belohnung für die mitgebrachten Waffen. In den folgenden Tagen kamen noch einmal 19 Deserteure des Regiments Wimpfen hinzu.

Aber anscheinend waren die Franzosen nicht besonders knapp an Truppen; vielleicht war aber auch kein Fremdenregiment vor Ort. Denn Karl wartete vergeblich auf seine neue Uniform. Nur der Elsässer wurde als Franzose behalten; die anderen wurden mit einem Trupp spanischer Gefangener über die Pyrenäen geschickt. In Frankreich wurden sie nur noch von vier berittenen Gendarmen begleitet, erhielten täglich eine Ration Brot und ein paar Sous. Je weiter sie sich von der Grenze entfernten, desto nachlässiger wurden ihre Bewacher. Trotzdem flüchtete niemand, da es sehr schwierig war, ohne Papiere die Grenze zu erreichen. Auch die Bevölkerung war freundlich und steckte den Gefangenen manchmal etwas zu Essen zu oder gab ihnen abgelegte Kleidungsstücke. Das Ziel war eine große Kaserne in Auxerre, die zu einem Gefangenenlager umfunktioniert worden war. Erst hier fragte sich Karl so langsam, was dies eigentlich sollte. Schließlich war er ein Überläufer und kein Gefangener. Als er den Kommandanten darauf ansprach, erklärt ihm dieser, dass eine Verwechslung passiert sein müsse. Man hatte vergessen, ihn in den Marschpapieren separat als Deserteur auszuweisen; jetzt war daran leider nichts mehr zu ändern. Er also plötzlich zu einem normalen Kriegsgefangenen geworden. Doch das Leben im Lager war leicht. Viele arbeiteten tagsüber in der Stadt oder bei Bauern, um sich ein Zubrot zu verdienen. Karl litt aber bald wieder unter der Langeweile und beschloss mit einem Schweizer und einem Westfalen zu fliehen. Aber ohne Pässe kamen sie kamen nicht weit. Schon nach wenigen Tagen wurden sie von Bauern gefasst und ins Gefängnis gesteckt. Dort verbrachten sie einige ruhige Tage, bis sie wieder nach Auxerre gebracht wurden.

Schlimmer wurde es als Karl mit einem Transport nach Lille verlegt wurde. Im Norden war das Land durch den Krieg viel ausgezehrter. Die Kälte in den Kasematten der alten Festung setzte den Gefangenen schwer zu und die Verwaltung bereicherte sich an ihrer Verpflegung. Zu Essen gab es fast nur halbgare Kartoffeln und viele starben an der Ruhr. Karl erkrankte ebenfalls schwer, erholte sich aber wieder. Zum Glück wurde er dann nach Douay verlegt, wo ein alter Invalide als Kommandeur für korrekte Verpflegung sorgte und das Abwiegen der Nahrungsmittel persönlich überwachte.

abgerissener französischer Soldat Inzwischen hatte sich die politische Lage aber wieder einmal geändert. Napoleon zog alle verfügbaren Truppen für seinen Krieg gegen Russland zusammen, und so kam der Befehl, unter den Gefangenen Freiwillige als Verstärkung für das Regiment Isemburg zu rekrutieren, das, nachdem es in Spanien völlig aufgerieben worden war, nun in Italien neu aufgestellt wurde. Außer Karl meldeten sich von den anderthalb tausend Gefangenen aber nur 60 Mann, allesamt erprobte Deserteure. Sie marschierten nach Metz, wo andere ähnliche Gruppen zu ihnen stießen. Es war ein lockeres Leben. Es gab zwar weder Uniformen noch irgendwelche Dienstpflichten, dafür aber Sold und reichlich Verpflegung. Das änderte sich erst als Napoleon die Truppen in Metz inspizierte. Zum Schluss kam er zum Nachschub des Regiments Isemburg. Schweigend musterte er den buntscheckigen Haufen in den zerlumpten Uniformresten aller Armeen Europas, alten Bauernjacken und zerrissenen Mänteln. Man mag sich vorstellen wie er angesichts des zusammengelaufenen Gesindels die Nase gerümpft hat. Jedenfalls wurden sie kurz darauf vollständig montiert und nach Italien in Marsch gesetzt.

Karl war guter Dinge. Der Krieg oder die politische Lage interessierten ihn zwar überhaupt nicht, aber endlich gab es wieder etwas zu sehen. Ausgiebig besichtigte er die Städte und Sehenswürdigkeiten auf dem Weg, bewunderte in Dijon den Palast der Herzöge von Burgund und die "gigantischen, schauerlichen Naturschönheiten" beim Weg über den Mont Cenis. Selbst als er krank im Lazarett von Grenoble zurückbleiben musste und dort gut gefüttert wurde, machte er sich so schnell wie möglich wieder auf den Weg. Die Nachzügler erhielten Kostgeld und mussten sich damit selbst durchschlagen. Das war ihm nur recht, denn dadurch hatte er auf seinem Weg noch größere Freiheiten. Auf den Gedanken zu desertieren scheint er dabei nie gekommen zu sein. Doch als besoldeter Tourist war er rundum zufrieden, und Italien übertraf alles, was er bislang gesehen hatte. Florenz war für ihn die schönste Stadt, die er je gesehen hatte. Dann besichtigte er Rom mit seinen berühmten Palästen und Kirchen. Er war sich bewusst, dass dies für einen einfachen Soldaten wie ihn ein geradezu unerlaubtes Vergnügen war, denn er schreibt: "Was soll ich von Rom sagen? - Gar nichts! werden die Gelehrten und Belesenen und dort Gewesenen meiner Leser antworten; Denn Du verstehst es doch nicht zu schildern." Trotzdem ließ er sich seine Neugier und Freude nicht nehmen.

Das Wandern endete im August 1812 mit seiner Ankunft bei einem Bataillon seines Regiments in Spoleto ein. Obwohl der Dienst dort sehr locker war, konnte er sich nach seiner Reise nicht mehr an das öde Garnisonsleben gewöhnen. Erstmalig in all den Jahren bekam er Heimweh und begann sich Gedanken zu machen, wie er jemals wieder nach Hause kommen sollte. Da es einem anderen Preußen so ähnlich ging, fassten sie gemeinsam den Entschluss zu den Engländern zu desertieren. Doch zu den englischen Linien war es weit. Anfangs marschierten sie nur Nachts und schlugen sich abseits der Straßen durchs Gebirge, aber bald machte ihnen der Hunger zu schaffen. In einem einsamen Bauernhof tauschten sie ihre Uniformen gegen Bauernkleidung und etwas zu Essen. Als sie es endlich wagten, in einem Wirtshaus etwas zu verzehren, wurden sie sofort von neapolitanischen Gendarmen gefasst und nach Neapel gebracht. Beim Verhör gaben sie sich als Deserteure von einem englischen Schiff aus. Wer wollte das in diesen Zeiten überprüfen? So landeten sie im Gefängnis mit anderen Deserteuren, englischen Gefangenen und italienischen Fahnenflüchtigen. Die Kost war mager, aber ein Ungar brachte Karl bei, aus Pferdehaaren Uhrketten zu flechten, die bei den Neapolitanern sehr beliebt waren. Mit diesem kleinen Nebenverdienst hielt er sich notdürftig über Wasser.

1814 wurde er dann in ein neapolitanisches Linienregiment gesteckt, das nur Gepressten und Deserteuren bestand. Karl, der sich immer gute Kameraden gesucht hatte, fühlte sich nun immer einsamer. Er war mittlerweile der einzige Deutschsprachige im Regiment und immer wieder Schikanen der Italiener ausgesetzt. Die napoleonischen Truppen waren längst aus Italien abgezogen, nur er tat immer noch Dienst. Doch die Flucht war schwierig, da die Grenze weit entfernt war. Er versuchte es trotzdem, wurde geschnappt und musste wieder einige Zeit im Gefängnis verbringen. Endlich wurde das Regiment an die römische Grenze verlegt. Karl befreundete sich mit einem Neapolitaner, der eine Geliebte in Florenz hatte, und beschloss mit ihm zu desertieren. Sie schlichen sich nachts an den Posten vorbei, die sie zwar beim Durchwaten eines Flusses beschossen aber keine Lust hatten, ihnen nachzusetzen. Beim Weg über die Berge halfen ihnen zwei Banditen und ein Schäfer weiter; die für die Flüchtlinge offensichtlich Verständnis hatten. Nachdem sie über einen schneebedeckten Bergkamm römisches Gebiet erreicht hatten, kaufte ihnen ein Bauer ihre Gewehre ab und bewirtete sie einige Tage. Von hier erreichten sie Rom, wo man sie als neapolitanische Deserteure in der Kaserne eines bunt zusammen gewürfelten päpstlichen Bataillons einquartierte. Man versuchte sie zwar anzuwerben, übte aber keinen Zwang auf sie aus; schließlich war der Krieg vorbei. Als sie standhaft blieben, erhielten sie nach einigen Tagen Pässe und Zehrgeld, um aus römischem Gebiet herauszukommen. Auf diese Weise versuchten die Behörden manchmal entlassene Söldner los zu werden.

Alpenübergang In der Toskana mussten sie sich bettelnd bis Florenz durchschlagen. Hier wurden sie von der Familie der Geliebten des Neapolitaners gastfreundlich aufgenommen. Als Karl nach einigen Tagen weiterzog, wurde er rührend verabschiedet, erhielt etwas Geld und den Ratschlag in Klöstern zu betteln. Das bewährte sich, aber inzwischen waren seine Stiefel völlig zerfallen, und er musste im Februar barfuß die verschneiten Berge nach Norden überqueren. Bei Bologna erreichte er österreichisches Gebiet. In der Kommandantur der Garnison erregte er Mitleid und bekam freie Unterkunft und Verpflegung. Für den Heimweg wurde ihm ein neuer Pass ausgestellt mit dem Einquartierungsscheine für die lokalen Behörden verbunden waren. Man behandelte ihn also fast wie einen demobilisierten Österreicher. Karl war zwar beeindruckt von der Disziplin der österreichischen Truppen beim Exerzieren, als er aber beobachtete wie ein Soldat dabei geschlagen wurde, nahm er sich vor, sich auf keinen Fall anwerben zu lassen. Aber niemand hatte Interesse an dem alten Veteranen; man schenkte ihm einige Groschen und ließ ihn ziehen. Mit aus grobem Leder notdürftig zusammengenähten Schuhen kam er schließlich über die Alpen. In Österreich wurde er stets freundlich aufgenommen. Oft erhielt er kleine Geschenke, Geld, Kleider und Essen. Es zählte nicht, ob er für oder gegen Napoleon gekämpft hatte. Viele waren selbst Soldat gewesen und verstanden gut, dass der einfache Soldat sich nicht immer aussuchen konnte, welche Uniform er gerade trug. Abgerissen, "gebräunt wie ein Indianer" und immer noch in seinen alten französischen Rock durfte er von seinen Abenteuern in Spanien und Italien erzählen. Dafür spendierte man ihm in den Wirtshäusern manche Portion Knödel und seit langen Jahren wieder das erste Bier. So erreichte er über Salzburg und Dresden im Mai 1815 nach sieben Jahren wieder Berlin. Sein jüngerer Bruder erkannte ihn nicht, und seine Schwestern wagten erst nach Tagen mit dem verwilderten Gesellen zu sprechen, aber er war zu Hause und fand später sogar wieder Arbeit als Setzer.

Der notorische Deserteur Karl erscheint wie ein Relikt aus längst vergangenen Tagen, aber aus seinem Bericht wird deutlich, dass er alles andere als ein Einzelfall war. Politik interessierte ihn nicht, und sein Patriotismus beschränkte sich darauf, dass er sich bevorzugt mit deutschsprachigen Soldaten befreundete. Wesentlich war für ihn dagegen, dass man in der französischen Armee nicht mehr geschlagen wurde, und immer wieder das Essen. Man liest bei Karl relativ wenig über die Schlachten und Scharmützel, an denen er teilgenommen hat, obwohl er sich anscheinend tapfer geschlagen hat. Viel mehr erfährt man dagegen darüber, ob und wie viel es zu Essen gab. Das war eben wirklich wichtig. Aus diesem Grund war er auch eher gegen das Plündern, denn er hatte ausgiebigst erfahren, dass die Soldaten durch Hunger und Teuerung die Zeche für die sinnlose Vergeudung schließlich doch bezahlen mussten. Wenn die Versorgung gut war und es sogar noch etwas zu sehen und erleben gab, war er zufrieden; wenn nicht, wechselte er ganz pragmatisch die Fronten. Für wen er dann kämpfte, wer in den deutschen Fürstentümern, Spanien oder Italien regierte war ihm dabei herzlich gleichgültig.

© Frank Westenfelder  


 
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